Warum KI unsere Bildungstradition radikal in Frage stellt
Es ist immer wieder ein besonderer Moment, wenn junge Menschen, die sich für das Abenteuer CODE University entschieden haben, zum ersten Mal bei uns am Campus sind. Viele junge, talentierte, intellektuell wache Menschen, eine bunte und lebendige Gruppe. Und doch wirken viele von ihnen wie blockiert, wenn sie in Richtung ihrer ersten selbstgesteuerten Lernerfahrungen aufbrechen sollen, nur mit der eigenen Neugier als Kompass.
Viele zögern, warten auf den Arbeitsauftrag. Sie warten auf die genaue Definition der Erwartungshaltung. Sie warten auf das Raster, das ihnen erklärt, wie sie zu einer guten Note kommen.
Diese Beobachtung teilen wir mit vielen Lehrenden aus den unterschiedlichsten Bildungseinrichtungen. Sie erzählen von ähnlichen Momenten – von Schülerinnen und Schülern, die eingeladen werden, neugierig und mutig zu sein, aber lieber auf Nummer sicher gehen. Die das Richtige tun wollen, statt etwas Eigenes zu wagen.
Ein systemisches Problem, keine individuelle Schuld
Das ist kein Vorwurf an einzelne Lehrkräfte. Im Gegenteil: Viele von Ihnen arbeiten bereits heute gegen genau diese Tendenzen an, oft unter schwierigen Rahmenbedingungen. Das Problem ist struktureller Natur – ein Bildungssystem, das über Jahrzehnte auf Konformität und Reproduktion ausgerichtet wurde, weil diese Fähigkeiten in der Industriegesellschaft wertvoll waren.
Doch was früher als Tugend galt – Fleiß, Anpassung, das exakte Befolgen von Vorgaben – wird im Zeitalter künstlicher Intelligenz zunehmend problematisch. Nicht weil diese Fähigkeiten unwichtig wären, sondern weil sie allein nicht mehr ausreichen.
Das Paradox der guten Schüler:innen
Hier offenbart sich ein besonders perfides Paradox: Ausgerechnet die "guten" Schüler:innen – jene, die das System am besten gemeistert haben – tragen oft die tiefsten Wunden davon. Alfie Kohn beschreibt in "Punished by Rewards", wie extrinsische Belohnungen intrinsische Motivation systematisch zerstören. Wer gelernt hat, für die Note zu lernen, verlernt, aus Neugier zu lernen.
Carol Dweck würde von einem "Fixed Mindset" sprechen, das durch unser Notensystem kultiviert wird. Schüler:innen entwickeln die Überzeugung, ihre Intelligenz sei eine feste Größe, die durch Prüfungen gemessen und durch Noten zertifiziert wird. Das Resultat: Sie meiden Herausforderungen, bei denen sie nicht sicher sind, zu glänzen. Sie bleiben in ihrer Komfortzone, weil Risiko mit der Gefahr des Scheiterns gleichgesetzt wird – und Scheitern bedeutet im traditionellen System: schlechte Note.
Albert Bandura, der Begründer der Selbstwirksamkeitstheorie, hat gezeigt, dass die Überzeugung "Ich kann wirksam handeln" vor allem durch eigene Erfolgserlebnisse entsteht – durch sogenannte "Mastery Experiences". Doch wenn Erfolg als das fehlerfreie Abarbeiten vorgegebener Aufgaben definiert wird, dann bleibt genau diese transformative Erfahrung aus: Ich stand vor einem echten Problem, ich wusste nicht, wie ich es lösen soll, aber ich habe einen Weg gefunden.
Der blinde Fleck in der KI-Debatte
Die aktuelle Diskussion über KI in der Bildung dreht sich meist um die falschen Fragen. Wie verhindern wir, dass Schüler ChatGPT für ihre Hausaufgaben nutzen? Wie erkennen wir KI-generierte Texte? Welche Verbote brauchen wir?
Dabei liegt die eigentliche Frage woanders.
Warum stellen wir noch immer Aufgaben, die eine KI in Sekundenbruchteilen mindestens genauso gut lösen kann wie ein Mensch? Und was sagt das über die Art von Kompetenzen aus, die wir bisher belohnt haben?
Ein Großteil unserer Leistungsmessung basiert auf Fähigkeiten, die KI hervorragend beherrscht: Informationen strukturiert wiedergeben, Standardlösungswege anwenden, Texte nach vorgegebenen Mustern verfassen. KI ist die ultimative Konformitätsmaschine – sie befolgt Instruktionen präziser und geduldiger als jeder Mensch. Sie ist der perfekte Schüler eines Systems, das auf Reproduktion ausgerichtet ist.
Das bedeutet nicht, dass wir auf Rechtschreibung, Grammatik oder mathematische Grundoperationen verzichten sollten. Diese Grundlagen bleiben wichtig. Aber sie sind keine ausreichende Vorbereitung mehr auf eine Welt, in der diese Kompetenzen technisch verfügbar sind. Mehr noch: Wenn wir Schüler:innen primär für das belohnen, was KI besser kann als sie, konditionieren wir sie auf Irrelevanz.
Von der Wissensakkumulation zur Selbstwirksamkeit
An der CODE University of Applied Sciences arbeiten wir seit Jahren mit einem anderen Ansatz. Nicht weil wir glauben, die eine Lösung gefunden zu haben, sondern weil unsere spezifischen Rahmenbedingungen – kleine Gruppen, hochmotivierte Studierende, große Gestaltungsfreiheit – uns Experimente ermöglichen, die im Regelschulsystem so nicht möglich wären.
Bei uns gibt es keine Vorlesungen und keine Klausuren, für die man Fakten paukt. Wir setzen auf projektorientiertes Lernen. Studierende lernen Dinge, weil sie diese benötigen, um ein konkretes Problem zu lösen oder ein digitales Produkt zu bauen. Wenn der Antrieb intrinsisch ist, ändert sich die Haltung zum Lernen fundamental.
Das Ziel ist nicht Wissensakkumulation – Wissen ist durch KI ohnehin überall verfügbar. Das Ziel ist Selbstwirksamkeit: die tiefe, durch Erfahrung gewonnene Überzeugung, "Ich kann meine Umwelt gestalten. Ich finde Lösungen für Probleme, die ich heute noch gar nicht kenne." Genau das, was Bandura als Kern menschlicher Handlungsfähigkeit beschreibt.
Wir erleben regelmäßig einen bemerkenswerten Prozess. Die anfängliche Unsicherheit – "Was soll ich denn jetzt tun?" – weicht nach einigen Wochen einer neuen Haltung. Studierende beginnen, ihre eigenen Fragen zu stellen. Sie definieren selbst, was "Erfolg" bedeutet. Sie entwickeln, was Dweck ein "Growth Mindset" nennt: die Überzeugung, dass Fähigkeiten durch Anstrengung und Lernen wachsen können, nicht durch Zertifikate festgeschrieben sind.
Was bedeutet das für den schulischen Alltag?
Nun ist eine kleine Privathochschule nicht mit einer staatlichen Schule vergleichbar. Dennoch gibt es bei allen anzuerkennenden Unterschieden Prinzipien, die allgemein gültig sind und sich übertragen lassen. Nicht als Patentrezept, sondern als Impulse für Veränderung.
- Vom Lehrstoff zum Lernanlass: Statt Prozentrechnung als isoliertes Thema zu behandeln, könnte es eingebettet werden in ein Projekt, bei dem Schüler:innen das Budget für eine Klassenfahrt planen oder die Preisgestaltung für ein Schulfest kalkulieren. Der Lehrplaninhalt bleibt derselbe, aber der Kontext schafft Relevanz. Und vor allem: Es entsteht eine "Mastery Experience" – die Erfahrung, ein echtes Problem gelöst zu haben, nicht nur eine Aufgabe abgearbeitet.
- Von extrinsischer zu intrinsischer Motivation: Wenn wir Kohns Kritik ernst nehmen, müssen wir überdenken, wie wir Leistung würdigen. Vielleicht bedeutet das, weniger auf Notenpunkte zu fokussieren und mehr auf die Frage: "Was hast du in diesem Projekt über dich selbst gelernt?" Oder: "Welches Problem möchtest du als Nächstes angehen?" Solche Fragen stärken das Growth Mindset, während Noten das Fixed Mindset zementieren.
- Von der Kontrolle zur Kollaboration: KI lässt sich nicht wegregulieren. Statt sie als "Schummelwerkzeug" zu behandeln, können wir mit Schülern gemeinsam erkunden: Wo hilft uns KI, besser zu werden? Wo führt sie uns in die Irre? Wie nutzen wir sie als Werkzeug, ohne das eigene Denken auszulagern? Diese Auseinandersetzung ist selbst eine Mastery Experience – ein komplexes Problem ohne eindeutige Lösung, das kritisches Denken erfordert.
- Von der Homogenität zur Differenzierung: Nicht alle Schüler:innen sind bereit für vollständige Selbststeuerung. Manche brauchen mehr Struktur, bevor sie gestalten können. Das ist kein Defizit, sondern eine Realität, die das Lerndesign berücksichtigen muss. Scaffolding – also das schrittweise Abbauen von Unterstützung – bleibt essentiell. Bandura betont, dass Selbstwirksamkeit auch durch stellvertretende Erfahrungen entsteht: Wenn ich sehe, wie jemand, der mir ähnlich ist, etwas schafft, steigt meine Überzeugung, dass ich das auch kann. Peer-Learning wird damit zum zentralen Element.
Die neue Rolle der Lehrkräfte
Viele Lehrkräfte erleben die KI-Entwicklung als Bedrohung ihrer Rolle. Dabei liegt darin eine Chance zur Emanzipation des Lehrerberufs – und zur Rückkehr zu dem, was Lehren im Kern bedeutet.
Die Zeiten des "Lehrers als Wissensmonopolist" sind vorbei. Das waren sie bereits vor ChatGPT, spätestens seit dem Smartphone. Wenn KI Inhalte liefert und Standardfragen beantwortet, wird die Lehrkraft zum Architekten der Lernumgebung, zum Ermöglicher von Mastery Experiences.
Der Fokus verschiebt sich vom Unterrichten zum Ermöglichen. Es geht darum, Lernräume zu gestalten – selbst im 45-Minuten-Takt, selbst unter den Zwängen von Lehrplänen und Notenverordnungen – in denen Schüler nicht passiv konsumieren, sondern aktiv konstruieren. In denen sie nicht für Noten lernen, sondern Probleme lösen, die sie wirklich interessieren.
Das ist anspruchsvoller als Frontalunterricht. Es erfordert andere Kompetenzen: kuratorische statt dozierende, moderierende statt kontrollierende. Aber es ist auch erfüllender – für beide Seiten. Und es ist näher an dem, was die meisten von uns ursprünglich bewogen hat, Lehrerin oder Lehrer zu werden: Menschen dabei zu begleiten, über sich hinauszuwachsen.
Kleine Schritte, große Wirkung
Veränderung im Bildungssystem passiert selten durch große Reformen von oben. Sie passiert durch den Mut einzelner Lehrkräfte, die Türen einen Spalt weit zu öffnen. Die innerhalb des Systems Freiräume finden und nutzen. Die ihre Kollegien inspirieren.
Wir an der CODE haben keine Patentrezepte für den Deutschunterricht in der 8. Klasse oder für die Realität heterogener Lerngruppen. Aber wir haben Erfahrungen damit, wie Lernumgebungen aussehen können, die Neugier entfachen statt ersticken. Wie man Verantwortung überträgt, ohne Schüler zu überfordern. Wie man zwischen nötiger Struktur und produktiver Freiheit balanciert.
Vieles davon haben wir von Schulen gelernt, die bereits heute ähnliche Wege gehen. Von Lehrkräften, die in ihren Klassenzimmern längst experimentieren. Von denen, die wissen: Die Alternative zur Konformitätsmaschine entsteht nicht in der Theorie, sondern in der Praxis – Schritt für Schritt, Projekt für Projekt, Schüler für Schüler.
Jeder kleine Schritt zählt. Jede Unterrichtsstunde, in der Schüler:innen eine eigene Frage verfolgen dürfen. Jedes Projekt, bei dem der Weg wichtiger wird als das Ergebnis. Jedes Feedback, das auf Wachstum fokussiert statt auf Bewertung. All das sind Samen für ein Growth Mindset, für intrinsische Motivation, für Selbstwirksamkeit.
Eine Frage der Haltung
Am Ende geht es nicht darum, wie wir KI in den Unterricht integrieren. Es geht darum, welche Menschen wir in eine Welt entlassen, die sich rasant verändert.
Menschen, die warten, bis ihnen jemand sagt, was zu tun ist? Oder Menschen, die Probleme erkennen und Lösungen entwickeln?
Menschen, die ihre Intelligenz als feste Größe begreifen, die durch Tests gemessen wird? Oder Menschen, die verstehen, dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist, bei dem Scheitern zum Wachstum gehört?
Menschen, die KI als Bedrohung ihrer eigenen Kompetenz erleben? Oder Menschen, die sie als Werkzeug nutzen, um über sich hinauszuwachsen?
Menschen, die für Belohnungen funktionieren? Oder Menschen, die aus innerer Überzeugung handeln?
Menschen, die Regeln befolgen? Oder Menschen, die Zukunft gestalten?
Die Antwort auf diese Frage ist keine technische. Sie ist eine pädagogische – und damit eine zutiefst menschliche. Sie hängt davon ab, was wir als Erfolg definieren. Was wir belohnen. Und vor allem: welche prägenden, transformativen Lernerfahrungen wir jungen Menschen in unseren Bildungseinrichtungen ermöglichen.
Unser Workshop-Angebot: Wie transformatives Lernen im Schulalltag gelingen kann
Um uns gemeinsam mit anderen Lehrenden mit den oben gestellten Fragen auseinanderzusetzen, bieten wir regelmäßig Workshops an. Klicken Sie hier, um mehr zu erfahren.