Software-Entwicklung ist nicht Informatik

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Wenn wir mit anderen über unsere Idee sprechen, die Bildungswelt im Bereich der digitalen Berufe zu verändern, stolpern wir immer wieder über ein Problem: Viel zu oft wird in den Diskussionen nicht zwischen Informatik und Software-Entwicklung unterschieden.

Egal ob in Studien zum digitalen Fachkräftemangel, in entsprechenden Stellenausschreibungen oder bei der Forderung der Politik nach besseren Bildungsprogrammen zur Förderung von digitalen Kompetenzen: In den meisten Fällen fehlt eine präzise Definition der Kompetenzen, um die es geht. Beschreibungen und Begriffe wie IT-Fachmann, Software-Entwickler, Programmierer, Informatiker und Computerwissenschaftler werden dabei oft synonym benutzt und damit in einen Topf geworfen.

Wenn Europa bis zum Jahr 2020 820.000 IT-Fachleute braucht, bedeutet das dann also, dass jetzt jeder anfangen sollte, Informatik zu studieren?

Sicherlich nicht.

Computer science is about taking complex problems and deriving a solution from math, science and computational theory.David Budden in “Degrees Demystified

Informatiker sind in erster Linie Wissenschaftler. Sie erarbeiten sich ein fundiertes Verständnis der theoretischen Grundlagen von Mathematik und Informationswissenschaften, können komplexe Algorithmen entwickeln und die wissenschaftliche Forschung vorantreiben. Sie arbeiten in einer Welt, die aus präzisen Analysen, klar definierten Konzepten und belastbaren Fakten besteht.

Die digitalen Kompetenzen, die in Arbeitsmarktstudien dargestellt, in Stellenanzeigen gesucht und in politischen Statements gefordert werden, sind jedoch meist anders gelagert. Sie beinhalten die Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren und sinnvolle Software-Lösungen für praktische Probleme zu kreieren, und dies mit begrenzten Ressourcen in einer unsicheren und sich dynamisch verändernden Welt.

David Budden beschreibt den Unterschied in seiner Analyse wie folgt:

Where computer science is about taking complex problems and deriving a solution from mathematics, science and computational theory, software engineering is very much focused around designing, developing and documenting beautiful, complete, user-friendly software.

Chuck Connell verwendet die folgende Analogie in seinem Artikel „Software Engineering ≠ Computer Science“:

Imagine a brilliant structural engineer who is the world’s expert on building materials, stress and strain, load distributions, wind shear, earthquake forces, etc. Architects in every country keep this person on their speed-dial for every design and construction project. Would this mythical structural engineer necessarily be good at designing the buildings he or she is analyzing? Not at all. Our structural engineer might be lousy at talking to clients, unable to design spaces that people like to inhabit, dull at imagining solutions to new problems, and boring aesthetically. Structural engineering is useful to physical architects, but is not enough for good design. Successful architecture includes creativity, vision, multi-disciplinary thinking, and humanity.

Gleiches gilt für die Software-Entwicklung.

Warum ist diese Unterscheidung so wichtig?

  1. Weil sie angehenden Studierenden dabei hilft, ein Studium zu wählen, das ihren Fähigkeiten entspricht: Viele haben durchaus das Zeug dazu, erfolgreiche Software-Entwickler zu werden, aber vielleicht nicht die notwendigen Fähigkeiten, um ein mathematisch anspruchsvolles Informatikstudium zu absolvieren. Wir können es uns nicht leisten, auf diese Weise viele junge Talente zu entmutigen, eine Karriere als Software-Entwickler einzuschlagen. Sarah Mei schreibt dazu in ihrem Artikel „Programming is not math“: „Learning to program is more like learning a new language than it is like doing math problems. And the experience of programming today, in industry, is more about language than it is about math.“
  2. Weil sie notwendig ist, damit angehende Studierende sich für ein Studium entscheiden, das zu ihren Erwartungen passt: Wer ein Informatik-Studium mit dem Ziel beginnt, ein guter Software-Entwickler zu werden, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden. Informatik ist eben kein Studium, in dem man lernt zu programmieren, wie David Budden es beschreibt. Die Quote der Studienabbrecher im Informatikbereich (an einigen deutschen Universitäten fast 40%) sind das traurige Ergebnis dieser enttäuschten Erwartungen.
  3. Weil sie Politikern und engagierten Institutionen aufzeigt, welche Ansätze und Instrumente sinnvoll dazu beitragen können, die Ausbildung digitaler Kompetenzen zu verbessern und die Qualifikationslücke in diesem Bereich zu schließen.
  4. Weil sie Arbeitgebern hilft, die richtigen Mitarbeiter finden, um die digitale Transformation erfolgreich mitzugestalten.
  5. Weil wir nur so verstehen, wie ein Studium gestaltet sein muss, das seine Absolventen mit den Fähigkeiten ausstattet, die es ihnen ermöglichen, erfolgreiche Software-Entwickler zu werden und die Anforderungen ihrer zukünftigen Arbeitgeber zu erfüllen.

Software engineering is very much focused around designing, developing and documenting beautiful, complete, user-friendly software.David Budden in “Degrees Demystified

Unser Ziel ist es nicht, die Bedeutung der Informatik als wissenschaftliche Disziplin oder die Rolle ihrer Absolventen als treibende Kraft hinter digitaler Innovation und wissenschaftlichem Fortschritt zu mindern. Aber die überwiegende Mehrheit der 800.000 fehlenden digitalen Fachkräfte benötigt nicht das Kompetenzprofil eines Informatikers. Gesucht werden kreative Problemlöser mit Kommunikations- und sozialer Kompetenz und der Fähigkeit, wissenschaftliche Innovationen in der Praxis anzuwenden.


Während das Bildungssystem in den englischsprachigen Ländern zumindest die Unterscheidung zwischen Informatik (Computer Science) und Software-Entwicklung (Software Engineering) ermöglicht, sprechen wir in Deutschland fast ausschließlich von Informatik, der Wissenschaft der systematischen Verarbeitung von Information. Es gibt Varianten wie „Angewandte Informatik“, „Technische Informatik“ oder „Medieninformatik“, aber der Ausgangspunkt dieser Diskussion ist und bleibt der Bereich Informatik. Da es in der deutschen Bildungslandschaft ein gut etabliertes duales Ausbildungssystem gibt, haben sich die deutschen Universitäten traditionell auf die wissenschaftliche Ausbildung konzentriert und die Vermittlung von praktischem Wissen und anwendungsorientierten Fähigkeiten im Sinne zukünftige Arbeitgeber eher geringschätzig betrachtet. Aus diesem Grund ist der Bedarf für ein anwendungsorientiertes Softwareentwicklungs-Studium als Alternative zur Informatik in Deutschland besonders groß (wie auch dieser Kommentar ausführt).


In unserem nächsten Beitrag werden wir einen Blick auf die Reaktion der Bildungsanbieter auf die derzeitige Nachfrage nach Software-Entwicklern werfen: Die erstaunliche Masse und der scheinbare Erfolg der Coding Bootcamps.

2 Reaktionen

  1. Wenn jemand Informatik Studiert und dann nicht die Software oder Service für Klient baut, warum hat er das studiert? Ich hab Master von Anwenden Informatik mit sehr gute Grundlagen von Theoretische Informatik, Linear algebra, Mathematik, Physic, Prozessorarchitektur, Algorithm, Paraller programierung und viele andere und ich fühle das Software Engineer musst sehr mehr wissen wie nur Theoretische Informatik oder Informatik. Software Engineer muss alles zusammen bringen und auch mit jemand über den Software Entwicklung sprechen, es ist nicht Theorie aber Praxis.

  2. Hi, das ist ein sehr interessanter Artikel! Ich selber liebe es zu programmieren und stehe kurz vor meinem Bachelor in einem nicht informatischen Medienbereich. Trotz vieler technischer Fächer ist der Bachelor zudem leider ein B.A.
    Wäre es mit meinem Profil trotzdem möglich eine Stelle als Softwareentwickler zu finden? Ich bin bereits ende zwanzig und will es gerne vermeiden noch ein zweites Studium absolvieren zu müssen. Das notwendige Wissen außer dem schreiben von Code, habe ich mir durch das aufwenden meiner gesamten Freizeit durch online kurse und Bücher angeeignet.

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